DER PLATTMACHER

Die reinen Glücksmomente, die nicht irgendwann von einem Moment der Reue geschmälert werden, sind wahrlich dünn gesät im Leben. Ein Ritt auf der bärenstarken und 170 Kilogramm leichten Kainzinger-R1 ohne Ausritt oder Abflug gehört ganz sicher mit dazu.

„Ja, das ist es!“, schießt es mir durch den Kopf. Der Pilot vor mir auf seiner Cup-R6 gibt alles. Kämpft bis aufs Messer und legt einen amtlicher, Streifen von der Continental-Brücke bis auf die kurze Anfahrt zur Sachskurve des Hockenheimer Motodroms Doch er ist chancenlos, denn ich sitze, oder besser gesagt klammere mich auf einer Kanonenkugel namens Kainzinger­Yamaha R1 fest. Und überhole gnadenlos, noch bevor die Hälfte der Geraden unter den Rädern durchgezogen ist. Ich jubiliere innerlich, verseile alle, die sich zeitgleich mit mir auf den Kurs begeben, fühle mich wie Graf Koks und hege den Gedanken, der schnellste Mann des Universums zu sein.

Schnitt. Zwanzig Minuten früher. Mit weichen Knien klettere ich auf Kainzingers Wunderwaffe, nachdem er sie mittels Startmaschine im MotoGP-Stil zum Leben erweckt hat. Während er sie mit kurzen Gasstößen auf Temperatur bringt, erklärt er mir, welche Mühe er auf dem ungarischen Pannonia-Ring hatte, das Vorderrad seiner 187 PS starken Kreation auf Basis einer ’98er-YZF-R1 am Boden zu halten. Ich rechne: 187 PS geteilt durch 170 Kilogramm Fahrzeugmasse zuzüglich meiner fettleibigen 84 Kilo im Leder, das sind… mir schwindelt, ich beende die Rechnung, ohne das exakte Leistungsgewicht ermittelt zu haben. „Nur keine Angst“, brüllt Herbert K. Ich denke an Hubert Kah und seinen berühmten „Engel 07″, sehe mich per Highsider in den Orbit katapultiert und entgegne: „Nee, keine Angst!“, murmle etwas von Respekt und Ehrfurcht und rolle auf die Strecke.

Nicht umsonst stellt sich also mit der ersten zaghaften Runde ein tiefes Vertrauen zwischen Pilot und PS-Monster ein. Es liegt satt wie ein Brett, lässt sich ultra-zielgenau durch die neue Schikane des Kleinen Kurses wedeln und nimmt Gasbefehle sogar unter 4000/min ohne Schluckbeschwerden an. Mit sinkendem Adrenalinspiegel wird der Rhythmus schneller, die Drehzahl steigt. Vierte Runde, Ameisenkurve. In weiter Ferne kommt ein gelbes Heck in Sicht. Raus aus der Ameise, nach links umgelegt und das erste Mal den Hahn voll aufgedreht! Brutal, brachial, infernal, die R1 geht und geht und geht -versucht, mir die Arme auszureißen!

Die Strecke verengt sich zu einem dünnen Strich, und der Linksbogen zur Schikane mutiert zu einer waschechten Kurve! Hartes Ankern auf die Rechts-Links-Kombination zu, die Gabel schluckt die fiesen Bodenwellen meisterhaft, das Hinterrad steigt ohne Vorankündigung in die Luft. Egal, runterschalten, umlegen, Gas anlegen und erst im grünen Bereich, also lange nach dem Scheitelpunkt, den Hahn wieder aufziehen. Die Arme werden länger, das Vorderrad hebt sich vom Boden, jeder Muskel spannt sich. Der gelbe Punkt entpuppt sich als eine Fireblade, die gegen die fein kontrollierbare und im Überfluss vorhandene Motorleistung der R1 ungefähr so gute Chancen hat wie Jenkners 125er-Aprilia gegen Rossis MotoGP-Honda.

Cool bleiben, denke ich mir. Schließlich gibt dir Kainzinger nicht nur unglaublich viele PS mit auf den Weg, sondern auch nur feinstes Material. So zum Beispiel die Bremsanlage am PVM-Magnesium-Schmiederad. PFM hat sie gebaut, mit sechs kleinen Kölbchen je Zange versehen, die sich in schwimmende 320er-Scheiben verbeißen. Wie ein hungriger Alligator in seine Beute. Zugegeben, kein besonders appetitliches Bild, aber ein treffendes.

Um sowohl positive als auch negative Beschleunigung auf den Asphalt zu bringen, bemüht sich ein überarbeitetes Öhlins-Fahrwerk, das unter den kundigen Händen von G.M.D.-Fahrwerksguru Hannes Hufnagel den nötigen Feinschliff erhielt. Er stattete Gabel und Federbein mit einer straffen Grundabstimmung aus, sorgte aber dennoch für ein sensibles Ansprechen und stellte feiste Reserven für die knallharte Gangart bereit. Ebenfalls von G.M.D. stammt die abgeänderte Hebelei der Federbeinanlenkung, durch die die Schwinge steiler steht. Sowohl Radstand, Lenkkopfwinkel als auch Gabel-Offset und Nachlauf sind am Kainzinger-Krad voll einstellbar.

Wunderbar, wie sich das gefahrene Setup anfühlt. Sofort ist spürbar, dass die R1 nur noch optisch mit dem Serienmotorrad zu tun hat. Geometrisch gesehen entsprechen ihre Fahrwerksdaten einer Yamaha YZF-R7 -und zwar nicht irgendeiner, sondern exakt jener, die Christer Lindholm in der ’99er-Pro-Superbike-Saison fuhr.

Bleibt die Frage, woher diese Urgewalt kommt. Meister Kainzinger lächelt und diktiert: echte 1100 Kubik, eine um 1,15 Kilogramm erleichterte Kurbelwelle, Titanpleuel, bearbeitete, um 82 Gramm pro Stück leichtere Spezialkolben, ein Verdichtungsverhältnis von 14,2:1, um 1 Millimeter größere Titanventile mit spezieller Tellerform sowie eine schärfere Nockenwellen. Dazu gesellen sich penibel auf das Triebwerk abgestimmte Flachschiebervergaser, das selbst entwickelte dreifache Ram-Air-System und die angepasste Akrapovic-­Race-Anlage. Ein englisches Renngetriebe und die schmächtige 520er-Rennkette leiten die Kraft auf die herrlich haftenden Dunlop-Slicks weiter. „So einfach ist’s“, meint der Tuner.

Nicht wirklich, denn über die unendlich vielen Details, mit denen er die R1 in besagte Kanonenkugel verwandelte, schweigt er sich schmunzelnd aus. Ich aber bin dankbar, durfte ich doch wenigstens einmal im Leben in den Genuss dieses Tieres kommen.

FAZIT:

Kainzingers Fahrmaschine auf Yamaha R1-Basis ist der Nährboden für Träume. Ihr gelingt die Kombination von schierer Gewalt und lammfrommer Fahrbarkeit. Sie eröffnet Einblicke in die Fahrdynamik echter Superbikes, ohne den 08/15-Piloten zu überfordern. Voll genial sind das Handling und die Präzision, mit der die R1 durch die Radien der Rennstrecke schneidet. Doch wie es nun einmal mit Träumen ist, bleiben sie in schöner Erinnerung, aber meist unerreicht. Eben wie Kainzingers sündteures Einzelstück. Traurig, aber wahr.